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Ist Sexualität immer gut und niemals sündig?

Ein Gastkommentar von Hubert Hecker

Die Kirchenzeitungen der Verlagsgruppe Bistumspresse präsentieren in der Ausgabe vom 25. Juli 2021 ein Doppelinterview mit den beiden Vorsitzenden des Synodalforums IV zum Thema katholische Sexualmoral unter der Überschrift: „Die kirchliche Lehre soll sich ändern“.[1]

Wer gab den Auftrag zum Paradigmenwechsel für die katholische Sexualmoral?

Chefredakteur Ulrich Waschki stellt zu Anfang an Bischof Helmut Dieser und die Ko-Vorsitzende Birgit Mock kritische Anfragen – etwa die, ob „der Synodale Weg den Missbrauch instrumentalisiere, um altbekannte Forderungen (nach einer Änderung der katholischen Sexualmoral) durchzubringen“. Tatsächlich hatte die MHG-Studie keinerlei Forschungsergebnisse dazu erbracht, dass die kirchliche Sexualmoral ursächlich für die Missbrauchsfälle gewesen wäre. Die Forscher gaben deshalb auch keine Empfehlungen zur Änderung der kirchlichen Lehre. Waschki ergänzt: „Wenn man sich an die kirchliche Sexualmoral halten würde, würde man sich gegen Missbrauch doch immunisieren. Warum also Änderungen?“

Bischof Dieser windet sich: „… im Prinzip richtig.“ Aber man wolle halt einen „grundsätzlichen Paradigmenwechsel“. Frau Mock verplappert sich: „Wir haben den Auftrag, die kirchliche Sexualmoral zu verheutigen, zu verändern…“ Einen Auftrag zur Veränderung der kirchlichen Lehre? Und wer soll den deutschen Synodalen den Auftrag gegeben haben? Von der MHG-Studie haben sie jedenfalls kein Mandat dafür; der Papst hat sich mehrfach kritisch zu dem deutsch-synodalen Änderungsansatz geäußert; die Kardinäle der päpstlichen Kurie stellten fest, dass eine mehrheitliche Laiensynode „sui generis“ nicht zuständig ist für kirchliche Lehrveränderungen. Fühlt sich Frau Mock von den progressiven deutschen Moraltheologen beauftragt, von dem inzwischen sexualrevolutionären BDKJ oder vielleicht von Maria 2.0? Angesichts fehlender kirchlicher Beauftragung kommen säkulare Institutionen und finanzstarke NGOs in den Blick, die von der Kirche schon länger die Anpassung ihrer Lehre an die moderne Welt einfordern. Lässt sich die Synodenleitung von DBK und ZdK von diesen Kräften beauftragen oder hat sie sich selbst ermächtigt, die katholische Sexualmoral den Zeitgeistströmungen anzupassen?

Hochfliegende Synodalpläne zur Veränderung des Weltkatechismus

Frau Mock erklärt für die Synodenmehrheit: „Wir sehen es als Auftrag, die Lehre der Kirche zu verändern.“ Und weiter: „Wir haben so wegweisende Pläne. (…) Wir arbeiten hochkonzentriert (…) an der Frage, wie wir auf Dauer den Katechismus ändern können.“

Bisher lautete die Sprachregelung der deutschen Bischöfe, man wolle ausschließlich eine Weiterentwicklung der katholischen Sexualmoral. Das würde bedeuten, unter Beibehaltung der kirchlichen Grundsätze zu Ehe und Sexualität eine neue Sprache und Auslegung der biblischen Botschaft für die heutige Zeit zu finden. In diesem Sinne sind die vertiefenden Überlegungen seit dem II. Vaticanum wie die Enzyklika familiaris consortio oder die ‚personalisierte Norm der Theologie des Leibes‘ von Papst Johannes Paul II. zu verstehen. Papst Benedikt XVI. hat die legitime Weiterentwicklung der kirchlichen Lehre als „Hermeneutik der Reform“ aufgefasst. Mit dem Begriff grenzte er seine Konzilsdeutung von den Hermeneutiken der glatten Kontinuität als auch des Bruches ab. Mit diesem Ansatz konnte er die Bedeutung der Tradition in Lehre und Liturgie würdigen, zugleich partielle kirchenhistorische Fehlentscheidungen korrigiert sehen. Entsprechend wären für eine legitime Weiterentwicklung der kirchlichen Lehre zu Ehe und Sexualität ebenfalls frühere Fehlentwicklungen in Lehrverkündigung und Pastoral zu identifizieren und zu korrigieren, etwa eine gnadenlose Pflichtethik, kleinlich-ungeistliche Auslegungen biblischer Weisungen und verengende pastorale Vorschriften. 

Unverhandelbar aber ist der biblisch-kirchliche Kern der katholischen Lehre als Vorrang von Liebe und Bindungstreue vor allen anderen sexuellen Sinnfunktionen. Darin ist die Ehe zwischen Mann und Frau ein Abbild der Liebe Gottes sowie eine Teilhabe an Gottes Schöpferkraft in den Kindern als Frucht der Liebe. In der Liebe zwischen Mann und Frau realisiert sich in besonderer Weise das christliche Hauptgebot der Gottes- und Nächstenliebe. Aber da die Menschen keine Engel sind, brauchen sie zusätzlich Ge- und Verbote als Leitplanken des Lebens, die das hohe Gut der Liebe schützen.
Ein Beispiel: Staat und Gesellschaft fordern bei der liberalen Sexpraxis von Jugendlichen die konsequente Verhütung, bei Misslingen empfehlen sie die ‚Pille danach‘ und für den Notfall wird die Abtreibung als Menschenrecht ausgerufen, also den ungeborenen Menschen das Recht auf Leben abgesprochen. Die ehemaligen Grünen-Politikerin Jutta Ditfurth hat das ganze liberale Sex-Programm durchgespielt mit dem Resümee: Bei ihrem „lustvollen, knapp zwanzigjährigen Geschlechtsleben“ seien „zwei Abtreibungen relativ wenig“. Wenn ein Christ sich nicht in diese Sex-Verlaufslogik bis hin zum Abtreibungshorror verwickeln will, dann muss er bei der Anbahnung einer Sexualbeziehung das Stoppschild beachten: Kein unverbindlicher Sex! bzw. das Gebot beachten: Sex nur mit einer Person, mit der man auch ein Kind haben und großziehen möchte in einer lebenslangen Treuebeziehung.

Die Mehrheit der Synodalen lehnt die oben skizzierte Weiterentwicklung der Lehre auf der biblisch-kirchlichen Basis ab. Der Forumstext propagiert eine grundsätzliche Änderung der kirchlichen Sexualmoral, also ein sexualethische Neukonzeption, die sich im veränderten Weltkatechismus niederschlagen soll. Es müsse ein „grundsätzlicher Paradigmenwechsel“ her, fordern beide Forumsvorsitzenden mehrmals. Sie verfolgen bezüglich der kirchlichen Lehre eine Hermeneutik des Bruchs.

Misstrauen und Schlechtreden über die katholische Sexualmoral…

Die Synodalen fahren anhand des von Prof. Eberhard Schockenhoff konzipierten Forumstextes mehrere Argumentationsstrategien gegen die bisherige und für eine neue Sexualethik:
• Die katholische Lehre wird von Grund auf in Bausch und Bogen schlechtgeredet. Der Forumstext denunziert sie als Verbotsmoral, leib- und lustfeindlich, unverständlich, nicht akzeptiert und akzeptabel, unplausibel, lebensfern, nicht menschengerecht, als eine lebensfeindliche Gesetzesethik. Bischof Dieser unterstellt der katholischen Lehre ein „Misstrauen gegenüber Sexualität an sich“. Sie wäre vom „Verdacht einer dauernden Gefährdung des Heils“ getrieben. Weiterhin hätte die Lehre zu „sehr vielen übergriffigen Gängelungen im Beichtstuhl“ geführt.
Die indiskreten Beichtstuhlfragen waren tatsächlich verbreitet, allerdings nicht mehr seit dem Konzil, auch weil das Beichtsakrament kirchlicherseits als unnötig abgetan wurde. Wenn Bischof Dieser fünfzig Jahre später den Beichtstuhl als Missbrauchseinrichtung hinstellt – ähnlich wie Papst Franziskus vor der Beichte als Folterwerkzeug warnt -, ist das eine unseriöse Aufbauschung von früheren pastoralen Abirrungen, die heute instrumentalisiert werden für die gewollte Neulehre. Jedenfalls rechtfertigen solche und andere historische Negativbeispiele nicht, mit dem Schmutzbadewasser kirchlicher Anwendungsfehler das Kind der biblisch-kirchlichen Ehelehre auszukübeln.

… Schönreden und Vertrauen auf die hedonistischen Sexualwissenschaften 

• „Wir wollen die kirchliche Sexualmoral überwinden“, so fasst Bischof Dieser die mutwillige Ausrichtung der Synodenmehrheit zusammen. An deren Stelle soll eine neue säkulare Sexualethik treten. Die wird hauptsächlich konzipiert aus „neuen Erkenntnisse der Humanwissenschaften“, die der Moraltheologe Schockenhoff zusammengefasst hat. In dessen Skizze einer neuen Sexualmoral findet sich nicht eine einzige Bibelstelle, von einer biblischen Fundierung seines Konzeptes ganz zu schweigen. Ungeklärt bleibt die wissenschaftstheoretische Frage, wie aus Tatsachenerkenntnissen über Sexualität normative Postulate gewonnen werden sollen.

Mit weltlichen Erkenntnissen, Ethiken und Philosophien hat sich die Kirche von Anfang an auseinandergesetzt: „Prüfet alles, das Gute behaltet“, lautet die Richtlinie vom Apostel Paulus in 1 Thess 5,21. Das Prüf- und Übernahmekriterium war und ist, ob die jeweiligen Erkenntnisse zum Evangelium passen. So lehnten die frühen Christen den sexuellen Hedonismus von Epikur und Lukretz kategorisch ab, während sie die Wahrheitsphilosophie von Platon und die Ethik der Stoa überarbeitet in die christliche Morallehre einbauten. Im Ergebnis formulierten die frühen Christengemeinden eine deutliche Abgrenzung zur sexuellen Lebenswirklichkeit der Spätantike. In der Zwölfapostellehre heißt es: „ … Du sollst nicht ehebrechen, nicht Knaben schänden, nicht Unzucht begehen, nicht ein Kind abtreiben und das Geborene nicht töten“.

Der deutsche Synodenweg dagegen soll in einer weitgehenden Anpassung an die säkulare Lebenswelt münden, die der epikureischen Lustphilosophie ziemlich nahekommt. Warum verschweigt Schockenhoff, auf welche Erkenntnisse von welchen säkularen Humanwissenschaftler sich der Forumstext bezieht? Aus einem Text- und Literaturvergleich ergibt sich, dass die grundlegenden „Erkenntnisse“ des Synodalpapiers mit den Texten des einflussreichen Kieler Professors für Sexualpädogogik, Uwe Sielert, konform gehen. Der war ein Schüler des Pädophilenaktivisten Helmut Kentler. Sielert propagiert in seinen Schriften die Instrumentalisierung des Körpers zur Lustmaximierung.

Wenn die synoden-verantwortlichen DBK-Bischöfe diese und ähnliche humanwissenschaftliche Erkenntnisse pflichtgemäß im „Lichte des Evangeliums“ so kritisch prüfen würden wie Schockenhoff die kirchliche Lehre, müssten sie die fragmentierten und lustzentrierten Sexualitätstheorien der Gegenwart als dem Evangelium widersprechend ablehnen. Diese Mühe machen sie sich nicht. Im Gegenteil – der Prüfvorgang wird heute umgedreht: Die biblisch-kirchliche Lehre soll nach der tiefsten Überzeugung von Bischof Bätzing „im Lichte der seit Jahrzehnten vorliegenden humanwissenschaftlichen Erkenntnisse[2] auf den Prüfstand gestellt werden.

Jenseits von Eden ist die Sexualität ambivalent

• Der Kern der katholischen Sexualmoral ist die bindungsverpflichtete Liebe zwischen Mann und Frau. In der Liebesfähigkeit und dem Willen zur Treue besteht die Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Mit jedem Sexualakt ohne Liebe, Bindung und Bereitschaft zur Fruchtbarkeit entfernt sich der Mensch von seiner engen Gottesbeziehung und auch von seiner menschlichen Bestimmung. Diese Trennung von Gott und seinen Geboten nennt die Bibel Sünde. Das allerdings ist für Welt und Kirche inzwischen ein Tabu-Wort.

Die Synodenlenker und die ihnen folgende Mehrheitsfraktion halten diese klassisch-katholische Lehre für idealistisch und deshalb überholt. Sie setzen an die Stelle der christlichen Basisnorm von Liebe und Treue die physisch-psychische Realität der Sexualität. Frau Mock betont auffällig oft die „positive Kraft“ der Sexualität. Die wird mit der Überhöhung zu einer „vom Schöpfer geschenkten Gabe“ als gut an sich (intrinsece bonum) angesehen. Bei dieser Hypothese von allseits guter Sexualität brauchen die Menschen weder Gebote noch Verbote, sondern höchstens Lebensberatung oder Anleitung zum guten Sex. 

Doch der von Gott geschaffene „sehr gute“ Mensch mit seinen Anlagen lebt nicht mehr im paradiesischen Zustand der Urgeschöpflichkeit. In seiner vierfach gebrochenen Existenz ‚jenseits von Eden‘ hat er die ursprüngliche Heilsharmonie mit Gott, mit der natürlichen Umwelt, den anderen Menschen und auch mit seinen eigenen Anlagen verloren. Er ist immer noch zum Guten bestimmt und geneigt, aber er steht im Widerstreit seiner eigenen Kräfte. Aus seinem Inneren kommt das Bestreben zum Guten, aber auch die bösen Gedanken zu Mord und Diebstahl ebenso wie Ehebruch und Hurerei (vgl. Mt 15,19).

Nach dieser Einsicht hat die Sexualität als Gabe Gottes oder Anlage der menschlichen Natur einen vorethischen Status – ähnlich wie die Talente und andere Kräfte des Menschen. Sexualität ist jedenfalls nicht von sich aus gut wie die Liebe. „Erst der Gebrauch entscheidet über Gut und Böse“, stellt der katholische Publizist Bernhard Meuser fest. „Die Lust und der Lusttrieb, die Begierde, Konkupiszenz, wie die Theologen sagen, sind so ambivalent wie das Leben. (…) Lust kann wunderschön sein; sie kann aber auch anarchische Verwüstungen anrichten. (…) Die moderne Literatur ist in weiten Teilen eine epische Verarbeitung der bitteren Früchte eines aus allen Fugen geratenen Umgangs mit der Sexualität.“ [3] Denn Sex ohne Liebe unterläuft den personalen Würdebezug des Menschen. 

Wenn Frau Mock die Sexualität als gut und unschuldig hinstellt bei Ausblendung der Schattenseiten, ist das eine „Verniedlichung“ von Sex, die Meuser als „neokatholischen Kitsch“ charakterisiert. Bei dieser Aufhübschung der Sexualität stehen dann die religiösen Verbrämungshändler bereit für den transzendenten Zuckerguss: „Küssen ist Beten“ dichtete Wunibald Müller vor einigen Jahren, indem er Sexualität als Quelle für die christlichen Spiritualität hochstilisierte.

Verunschuldigung von Sex unter Ausblendung der Schattenseiten

• Auch die Idee, Sexualität als ausschließlich positive Lebenskraft hinzustellen, hat der Synodaltext von Sexualwissenschaftlern übernommen. Der oben erwähnte Uwe Sielert sieht in der Sexualität eine „allgemeine Lebensenergie“ vom ersten bis zum letzten Atemzug des Menschen. „Sie ist die Kraft- und Lebensquelle (!) schlechthin“ – so die Überhöhung der Sexualität durch die Sielert-Schülerin und katholische Präventionsbeauftragte Ann-Kathrin Kahle. Sex soll ausschließlich mit positiven Konnotationen in Verbindung gebracht werden. Die Schattenseiten der Sexualität in den Praktiken wie Übergriffe bei Erwachsenen, Kindesmissbrauch, Ephebophilie, Prostitution, Vergewaltigung, Menschenhandel, kommerzialisierte Pornografie, Sexsucht, Pädophilie und Sadismus sollen ausgeblendet bzw. von der Sexualität weginterpretiert werden. Schon in der MHG-Studie wurden den Missbrauchstätern vielfältige nicht-sexuelle Defizite zugeordnet wie emotionale Unreife, Depression, Alkoholmissbrauch etc., „als habe Knabenschändung mit allem zu tun nur nicht mit Knabenschändung“, wie Bernhard Meuser kommentiert.[4] Statt von sexueller Gier und egoistischer Triebbefriedigung versucht auch die Kirche die Sexualität zu verunschuldigen, etwa wenn Kirchenleute sexuellen Missbrauch als Machtmissbrauch umdeuten. Die kirchlichen Präventionsbeauftragten umschreiben den Tatbestand von ‚gewalttätiger Sexualität‘ durchgehend als „sexualisierte Gewalt“, auch um das selbstgestrickte Schönbild der guten Wunsch-Sexualität zu pflegen.

Statt Primat der Liebe Beziehungspflege und andere fragmentierte Sinnfunktionen

Bernhard Meuser spricht von einem Masterplan Gottes für die Hierarchie, Ordnung oder Reihenfolge der sexuellen Sinnwerte: ‚Am Anfang und über allem steht die Liebe als christliches Wesensmerkmal für jede sexuelle Beziehungsaufnahme, dann kommt das „Für immer“ Versprechen der Treue, dann ist das Nest gegeben für die lustvolle Vereinigung „im Fleisch“, dann kann das Kind kommen und in der Liebe von Vater und Mutter selbst zu einem liebenden Menschen heranwachsen.‘[5]

Das Forumspapier löst dieses Wertgefüge der Liebe auf in eine Reihung von gleichwertigen Tatbeständen der empirischen Sexualität. Von der Sexualwissenschaft übernimmt Schockenhoff vier Sinnfunktionen oder Wirkweisen der Sexualität: die Lustfunktion, die Beziehungsfunktion, die Identitätsfunktion und die Fortpflanzungsfunktion. 

Bei dieser Transformation zeigt sich der grundstürzende Charakter des Synodentextes, wenn der biblisch-christliche Primat der Liebe zum Ratschlag für Beziehungspflege degradiert wird, gleichwertig etwa mit der Lustfunktion. Weiterhin wird jede dieser Funktionsweisen von Sexualität zu einem „positiven Sinnwert“ deklariert, der für sich moralisch legitim und bejahenswürdig sei. Auch das lustvolle Manipulieren der Genitalien (self sex) hält Schockenhoff bei Singles für werthaltig, insofern sie damit den eigenen Körper als Lustquelle bejahen. 

Am letzteren Beispiel zeigt sich nach Meuser wiederum die neokatholische Sexualverkitschung - und damit das Ausblenden sexueller Verirrungen. Einleitend bemerkt er, dass die Selbststimulation in der Entwicklungsphase als vorübergehendes Phänomen kein intrinsece malum ist. Aber die heute in einschlägigen Ratgebern propagierten Selfsex-Techniken zeigen fatale Folgen: Masturbation „funktioniert“ als virtuelle Ersatzhandlung, indem im Kopfkino mit einem imaginierten Partner sexuelle Vereinigung mit dem Ziel ekstatischer Lust gespielt wird. Ein fake, eine Illusion mit dem Gefühl, als wenn der Sinnwert der Sexualität auch außerhalb der liebenden Begegnung von Mann und Frau zu erzeugen sei. Doch die dauerhaft praktizierte Selbstbefriedigung führt eher zu einer selbstbezogenen Obsession und virtuellen Einsamkeit. Vor allem aber wird mit der sexualethischen Aufwertung der Masturbation dem Milliardengeschäft der multimedialen Internetpornografie zugearbeitet. Schon pubertierende Kinder werden in visuelle Prostitution eingeweiht, als Suchtkunden konditioniert und zu übergriffigem Sexualverhalten erzogen durch sexuelle Verwahrlosung.[6] Statt dass sich die deutschen Bischöfe (und insbesondere der BDKJ) um den Schutz von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen vor dieser „Pest des 21. Jahrhunderts“ sorgen, lassen sie sich naiv vereinnahmen von Schockenhoffs blauäugigem Ratschlag zum „lustvollen Erleben des eigenen Körpers“ durch self sex.

Meuser diagnostiziert in der Auflösung der biblisch-christlichen Wertordnung zu den gleichwertigen, isolierten und fragmentierten Sinnfunktionen der Sexualität eine fundamentale Abirrung des Synodalen Wegs. Er bringt zahlreiche Belege und Beispiele dafür, dass alle unethischen bis monströsen Sexualpraktiken als Kollateralschäden der Fragmentierung zugeordnet werden können, wenn „die Lust von der Treue, die Treue von der Liebe und die Liebe vom Kinderkriegen“ getrennt werden. Insbesondere die Trennung von Sex und Liebe zerstöre das Beste der Person. „In Wahrheit wird die Sexualität der Liebe übergeordnet.“[7] Diesen Eindruck vermitteln auch die beiden Kovorsitzenden des Forums IV im Doppelinterview. Bischof Dieser spricht zwar einmal vom „Primat der Liebe vom Evangelium her“. Aber diese biblische Priorisierung oder Evangelisierung der Sexualmoral spielt in seinen weiteren Ausführungen, im Forumstext und für die Synodenmehrheit absolut keine Rolle.

Das Dogma der Moderne: Sex ist niemals Sünde!

• Die eifernde Anpassung der Synodenmehrheit an den Hauptstrom der liberalen sexuellen Revolution ist nach Meuser als nachträgliche Unterzeichnung einer Ur-Akte der Moderne zu deuten. „Das Dogma der Moderne lautet: Sex ist niemals Sünde. Die Urakte lautet: Wir werden nie wieder etwas Sexuelles in Verbindung mit Sünde bringen. Die Evangelische Kirche hat diese Ur-Akte, die über Anschluss oder Nichtanschluss an die Moderne entscheidet, lange schon unterzeichnet. Die deutsche Katholische Kirche ist gerade im Begriff, dies auch zu tun.“[8]

Wie zur Bestätigung dieser These informiert Bischof Helmut Dieser in dem Doppelinterview über eine Videokonferenz der fünf Bischöfe im Forum IV. Die hätten sich zu folgender Stellungnahme durchgerungen: „Wir wollen nicht mehr sagen müssen, dass alle Sexualität, die außerhalb der Ehe von Mann und Frau gelebt wird, von vornherein Sünde ist.“[9] Tatsächlich kommt in dem Synodalpapier zur neuen Sexualmoral das Wort ‚Sünde‘ nicht mehr vor. Promiskuität, Untreue, offene Mehrfachbeziehungen, Pornografie, Prostitution und anderer Sexualitätsmissbrauch werden allenfalls als „fragwürdig“ hingestellt. Damit wären auch Fremdgehen und Seitensprung, also der im 6. Gebot untersagte Ehebruch, nicht mehr als Sünde anzusehen, sondern unter der Frage nach schwierigen Lebenssituationen zu würdigen. Konsequenterweise müsste man auch die Bibel verheutigend umschreiben, etwa die eindeutigen Worte des Evangeliums gegen die Sünde des Ehebruchs abmildern. Und auch das Jesuswort an die Ehebrecherin: Sündige nicht mehr! passt so nicht mehr in die neo-katholische Sexualmoral. Die Synodalen werden anstelle des kategorischen Verbots der Sünde des Ehebruchs sicherlich neue geschmeidigere Formulierungsvorschläge finden – etwa das Anraten von Selbstreflexion über unangemessenes Verhalten oder das Angebot von Paarcoaching bei fragwürdigen Sexualpraktiken.

Als neue Leitfrage wird die alte Schlagerparole von Zarah Leander hervorgekramt: „Kann denn (sexuelle) Liebe Sünde sein?“ In dem deutschen Film „Der Blaufuchs“ von 1938 verliebt sich die gelangweilte Frau eines langweiligen Professors in einen feschen Flieger, der zugleich mit einem Tenor eifersüchtig um die schöne Ilona buhlt. In diesem Liebesgeplänkel zu Dritt gibt die Filmdiva die Antwort auf ihre rhetorische Eingangsfrage: „Liebe kann nicht Sünde sein! Auch wenn sie es wär‘, wär’s mir egal. Lieber will ich sündigen mal als ohne Liebe sein!“

Die internationale Erotik-Industrie formte nach dem Krieg das alte deutsche Schlagermotto zu der Parole um ‚Love is no sin‘. Aus diesem Kontext wurde die Formel kürzlich von Teilen der Kirche in Deutschland reaktiviert. Auf seiner Facebookseite präsentierte das Bistums Limburg, also die Diözese des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, an zehn Tagen im April 2021 um den Limburger Dom ein Banner mit dem einschlägigen Dogma der Moderne: Love is no sin / Sexuelle Liebe ist nie Sünde. Die Botschaft soll wohl lauten: Ab jetzt werden wir niemals mehr Sexualität in Verbindung mit Sünde bringen! Im Subtext ist zu entziffern: Die Kirche in Deutschland verabschiedet sich von der katholischen Sexualethik mit dem Primat der bindungstreuen Liebe sowie den Geboten als Flankenschutz der Liebe.

 

 



[1] Das Doppelinterview mit Bischof Helmut Dieser und Birgit Mock erschien in den Kirchenzeitungen der Bistümer Osnabrück, Limburg, Mainz, Fulda, Hildesheim, Hamburg, Aachen, Berlin, Dreden-Meißen, Erfurt, Görlitz und Magdeburg

[2] Bischof Georg Bätzing im Gespräch, Seite Bistum Limburg, 24.3.2021

[3] Bernhard Meuser im Interview: Moral ist Flankenschutz für die Liebe, Die Tagespost vom 14. 10. 2020

[4] Bernhard Meuser: Freie Liebe. Über neue Sexualmoral, Basel 2020, S. 158

[5] Ebenda S. 225

[6] Bernhard Meuser: Brief an die deutschen Bischöfe, kath.net 9. 11. 2020

[7] Bernhard Meuser im Interview, siehe Anmerkung 3

[8] Bernhard Meuser: Freie Liebe, S. 17

[9] Doppelinterview, Kirchenzeitungen der Verlagsgruppe Bistumspresse, 25.7.2021