25.6.2024
Eine Anthropologie postmoderner Beliebigkeit in sexualethischen Fragen
Die Aufgabe der naturrechtlichen Ethik-Basierung führt zu antibiblischem Relativismus. Eine Folge ist die Auflösung der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach.
Seit etwa 60 Jahren macht sich in Westeuropa und Nordamerika eine Großtendenz breit, die man unter dem Oberbegriff postmoderner ‚Konstruktivismus‘ besonders in den Human- und Sozialwissenschaften finden kann. Diese Strömung entwickelte sich ab den 1960er Jahren im nachkolonialen Frankreich, wo skeptizistische Philosophen wie Derrida, Foucault und Lyotard die europäische Denktradition von Vernunft, Identität, Wesen, Objektivitätserkenntnis und Wahrheit „dekonstruierten“. Die Denkschule ihrerseits erklärte alle Wirklichkeitsbeschreibungen zu standpunktbezogenen Realitätsinterpretationen von gesellschaftlichen Gruppen und somit zu sozial-kulturellen Konstrukten. Statt Objektivitätsaussagen sowie Wahrheitssuche und -anspruch wurde ein Relativismus von Standpunkten und Ethiken postuliert. Selbst den Fakten der Biologie sprach man die objektive Geltung ab. Nach der Gendertheorie von Judith Butler soll die naturwissenschaftliche Feststellung von exakt zwei Geschlechtern auch nur ein kulturelles Konstrukt sein.
Bezüglich des Menschenbildes ist der Konstruktivismus grundsätzlich anti-essentiell ausgerichtet. D. h. die leib-seelisch Einheit und Identität des Individuums wird bestritten. Das postmoderne Subjekt ist konzipiert als ein substanzloses Fluidum, das in gnostisch-geistiger Freiheit sich immer wieder neu erfindet – bis hin zur beliebigen Wandlung seiner Geschlechtlichkeit.
Aber die wesenhafte Identität des Subjekts ist zwingende Voraussetzung für Menschenwürde und Menschenrechte. Daher bleibt den Konstruktivisten nichts anderes übrig, als diese Grundelemente des Menschseins als nominalistische „Etiketten“ abzutun. Darüber hinaus werden deren Begründung im Naturrecht und Anspruch auf universelle Geltung als neuzeitliches Konstrukt der Aufklärung diskreditiert und als Instrumente der Europäer zur Unterdrückung der Kolonialvölker denunziert.
In den deutschen Universitäten ist der französische Konstruktivismus schon seit Jahrzehnten beliebt, besonders in den Fachbereichen Kommunikations– und Kulturwissenschaft, (Sexual-) Pädagogik, Sozialwissenschaft u. a. etabliert. Aber erst seit einigen Jahren ist die ‚french theory‘ bei deutschen Moraltheologen, ZdK-Referenten und einigen progressiven Bischöfen en vogue. Insbesondere in den Texten des Forums IV vom Synodalen Weg sind die entsprechenden Argumentationen nachweisbar. Hinter dem Codewort „neuere humanwissenschaftliche Erkenntnisse zur Sexualität“ (Bischof Bätzing) verbergen sich die konstruktivistischen Ansätze. In einem Papier der bischöflich beauftragten Präventionsgruppe wird Michel Foucault ausdrücklich als relevanter Bezugsautor genannt.
Der französische Autor hat die sexuelle Lust und das Begehren zum Angelpunkt seines Sexualitätsverständnisses gemacht. Für das entsprechende Ausleben einschließlich des „self sex“ sollen dem autonomen Subjekt von Seiten der Gesellschaft grundsätzlich keine (ethischen) Einschränkungen gemacht werden. Diesem Ansatz hat sich der für den Synodalen Weg maßgebliche Moraltheologe Eberhard Schockenhoff angeschlossen, auf seinen Ausführungen beruhen die Grundlinien des IV, Forumtextes.
Wenn aber uneingeschränkte sexuelle Autonomie im Lustmaximieren und Begehren die Leitlinie für die neue Sexuallehre sein soll, dann sind im Bereich des Sexuellen alle Verhaltensversionen und Perversionen grundsätzlich akzeptabel. Der Forumstext spricht allenfalls von Ambivalenzen, aber keinesfalls dürften Grenzen oder gar Verbote gesetzt werden. Sexualität wird erkennbar in den überzogenen Freiheitsrahmen postmoderner Beliebigkeit eingeordnet. Die christlich-personale Liebe kann da nur noch als zusätzliche Sinndimension der Beziehungspflege marginalisiert und zu einer Wahloption unter vielen degradiert werden.
In der bibelbasierten christlichen Lehre ist die Liebe und Treue zwischen Mann und Frau das Kernstück der Sexualethik. Nur in der bedingungslosen Liebe als gegenseitige Hingabe hat die Lust ihren menschenwürdigen Platz und findet das Begehren Erfüllung. In der lustzentrierten Sexualität dagegen bleibt das uneingeschränkte Begehren die Unruhe-Triebkraft, die zu Seitensprung, Ehebruch, Pornokonsum, Prostitution, Pädophilie und anderen sexuellen Abwegen führt.
Die Forumssynodalen begründen ihren Ansatz biblisch mit der Behauptung, Sexualität und Geschlecht seien unspezifische Geschenkgaben des Schöpfergottes, die der autonomen, somit beliebigen Verfügbarkeit der Menschen anheimgestellt seien. Mit diesem Hinweis glauben sie auch die Homo- und Transsexualität legitimieren zu können. Das seien „Normvarianten“ der guten Schöpfung Gottes.
Diese Argumentation bedeutet allerdings eine fundamentale Umdeutung der biblischen Schöpfungsgeschichte im konstruktivistischen Sinne. Gott schuf den Menschen ausschließlich als männlich und weiblich. Auch von Natur aus gibt es kein weiteres Geschlecht. Alles andere „ist Wunschdenken“, sagt die Nobelpreisträgerin Nüsslein-Vollhardt. Eine Geschlechtsänderung sei nur äußerlich-medizintechnisch möglich, Transfrauen bleiben biologisch Männer und umgekehrt. Punkt.
Die Schöpfungsordnung kennt nur eine heterosexuelle Attraktion von Mann und Frau: „Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch sein“ (Gen 2,24). Nur diese Zuordnung wird von Gott „gut“ geheißen. Nur aus dieser Vereinigung kann ein Kind – und damit die Menschheit wachsen. Das ist Gottes Auftrag in Gen 1,28. In der schöpferischen Fruchtbarkeit von Mann und Frau nehmen die Menschen teil an Gottes Schöpferkraft.
Die gegenseitige Zuordnung von Mann und Frau entspricht ebenfalls der Naturordnung. Die Theologie charakterisiert die ursprüngliche mann-frauliche Bindung als „Naturehe“, mit der natürlich gegebenen Fruchtbarkeit auf Familie hingeordnet. Diese grundlegende Konstellation „von Natur aus“ hat naturrechtlich-normierenden Charakter.
Gegen diese Argumentation könnte man einwenden:
Sind intersexuelle und homosexuelle Menschen nicht auch in Gottesebenbildlichkeit geschaffen und mit unverlierbarer Menschenwürde ausgestattet? Gewiss ist das so und daher haben sie Anspruch auf gleiche Achtung und Respekt wie alle anderen Menschen.
Aber folgt aus ihrer Menschenwürde und dem Grundrecht auf Freiheit und Gleichheit nicht auch, dass sie ebenso wie Mann und Frau die sexuelle Lebensgemeinschaft der Ehe eingehen können? Das wiederum ist nicht möglich – weder nach dem biblischen Schöpfungsbericht noch den naturrechtlichen Grundsätzen.
Kardinal Ratzinger hat 2003 den biblischen Ansatz dargelegt: „Es gibt keinerlei Fundament dafür, zwischen den homosexuellen Lebensgemeinschaften und dem Plan Gottes über Ehe und Familien Analogien herzustellen, auch nicht in einem weiteren Sinne.“ Eine sterile ‚Homoehe‘ kann niemals eine „Normvariante“ der Schöpfung sein.
Die naturrechtliche Argumentation kommt zum gleichen Ergebnis: Inter- und homosexuelle Paare verfügen nicht über die Voraussetzungen, die zum Eingehen einer Ehe notwendig sind. Der Gleichheitsgrundsatz ist für diesen Fall ebenfalls nicht anwendbar. Da hetero- und homosexuelle Verbindungen in ihrem zentralen Charakter, dem der Fruchtbarkeit und geschlechtlichen Ergänzungsbedürftigkeit, nicht gleich sind, müssen sie als „wesentlich ungleich in ihrer Eigenart rechtlich ungleich behandelt werden“, so eine Maxime des Bundesverfassungsgerichts.
Schließlich führt die kirchliche Homo-Lobby eine weitere Hilfsargumentation an:
Wenn alles menschlich Gegebene Teil der guten Schöpfung ist, dann sei auch die homosexuelle Disposition als gut zu akzeptieren und könne auch ohne Vorbehalte paarweise ausgelegt und gesegnet werden.
Wir leben aber nicht mehr in der paradiesischen, sondern nach dem Sündenfall in der gebrochenen Schöpfung, in der auch Krankheit und Übel verbreitet sind. Neben der Masse der gesunden Menschen gibt es Blindgeborene und Behinderte, Unfruchtbare und eben eheunfähige Menschen. Das ist zu beklagen. Doch diese Menschen bleiben als Gottgeliebte in Hoffnung auf Heilung und Heil. Derweil sind wir Mitmenschen beauftragt, an ihnen die Liebe und Werke Gottes zu tun (vgl. Joh 9, 3f).
Jedenfalls sind die erwähnten Unbilden der gebrochenen Schöpfung – etwa auch die Pädophilie-Veranlagung – offensichtlich nicht als „gottgewollt“ oder „gut“ zu kennzeichnen;
Zusammenfassend ist festzuhalten: Für die Schöpfungsordnung war und ist die Naturrechtsbegründung der angemessene Interpretationsrahmen. Auch bei dem aktuellen Diskurs über den Paragraf 218 erweist sich die naturrechtliche Argumentation des Bundesverfassungsgerichts als ein wirksamer Schutzwall zum Lebensrecht der Ungeborenen.
Auf diesem Hintergrund ist es fatal, dass die bischöfliche Mehrheitsfraktion auf dem Synodalen Weg die grund-solide Naturrechtsbegründung für ethisch-soziale Normen generell und insbesondere für Sexualität ablehnt, wo sie doch die christliche Lehre stützt und die Institution ‚Ehe und Familie‘ schützt. Stattdessen versuchen die betreffenden Bischöfe zusammen mit dem ZdK, der Kirche in Deutschland eine konstruktivistische Anthropologie mit postmoderner Beliebigkeit aufzudrücken (siehe oben).
Auf dem Weg zu dieser „anderskatholischen“ deutschen Neukirche galt die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle in Mönchengladbach offenbar als Hindernis. Das DBK-finanzierte wissenschaftliche Sozialinstitut hat der Kirche im Gesellschaftswandel der letzten 60 Jahre Leitlinien und Impulse gegeben. Das geschah weitgehend auf naturrechtlicher Grundlage und mit Breitenwirkung durch die 500 Hefte der „Grünen Reihe“. Auf Betreiben der zuständigen Bischöfe wurde das Institut in einem intransparenten Verfahren am 15. April d. J. aufgelöst – ausdrücklich mit dem Ziel, eine Pluralisierung der „katholischen und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen“ voranzutreiben (vgl. Die neue Ordnung, Juni 2024 und Die Tagespost vom 20.6.2024).
Hubert Hecker